Die verborgene Harmonie

  

Lausche dem tonlosen Ton!

Antje Nagula

Harmonie ist ein Begriff, der mir als Sternzeichen Waage durchaus sehr angenehm ist. Und dennoch lässt ein Zuviel von Harmonie stets meine Alarmglocken schrillen, weil sich eine meiner beiden Waagschalen dann zu senken beginnt – und damit das ganze Gefüge in eine Schieflage gerät. Jede Schieflage erfordert jedoch eine Bewegung hin zum Ausgleich. Und wenn diese Bewegung nicht mit genügend vorsichtiger Spannung geschieht, saust schon bald die andere Waagschale in die entgegengesetzte Schieflage, die noch weniger angenehm ist, denn sie enthält Konflikt und Disharmonie. 

Leben ist Bewegung

Ist in diesem ewigen Auf und Ab des Lebens etwa ein System erkennbar, eine „verborgene Harmonie“ zu erlauschen? Warum können wir es uns in der durch Fülle gesenkten, harmonisch „hellen“ Waagschale nicht einfach gemütlich machen und es dann dabei belassen? Ganz einfach: Weil Leben Bewegung ist! Jedem Ausatmen folgt unweigerlich ein Einatmen und wenn es das nicht mehr tut, sind wir tot. Jeder Nacht folgt ein neuer Tag, jedem Sommer ein Winter, nach der Ebbe kommt die Flut und nach jedem Regen scheint irgendwann wieder die Sonne – wenn es das einmal nicht mehr tut, wird unsere Erde nicht mehr sein. Leben ist Bewegung – und wer sich nicht selbst bewegt, der WIRD eben bewegt! Global gesehen, hatte sich die westliche Welt bisher in einer der Waagschalen ein gemütliches Leben in Saus und Braus eingerichtet. Und wir alle erleben gerade, wie wir in einer gewaltigen Bewegung aus dieser Waagschale herauskatapultiert werden, weil ein anderer Teil der Welt nicht länger in seiner Schieflage verharren will. Entweder wir bewegen uns jetzt in unserer gemütlichen Sicherheit und sorgen für gerechten Ausgleich – oder wir werden bald eine Schieflage von der anderen Seite her erleben, was sicherlich keiner hier möchte!

Jene Harmonie, nach der wir uns alle sehnen, würde ich als „Gleichklang“ bezeichnen, als ein ausgeglichenes Verhältnis der Kräfte, beide Waagschalen in einer horizontalen Lage. Aber wer schon jemals eine dieser empfindlichen, mechanischen Waagen bedient hat, der weiß, wie unendlich schwer dieser Zustand herzustellen ist, denn jeder noch so kleine Impuls ruft schon wieder einen Ausschlag in eine Richtung hervor. Der entscheidende Punkt an diesem Instrument ist das berühmte „Zünglein“ an der Waage, und dieses Zünglein heißt „Spannung“! 

Der „tonlose Ton“ im „Gewebe des Seins“

Stellen Sie sich dieses Auf und Ab jetzt einmal grafisch vor in Form  einer Welle: der Wellenberg hebt sich, die Welle bricht am höchsten Punkt und stürzt sich hinab in ein Tal, bevor sie sich am tiefsten  Punkt wieder sanft bricht und die Aufwärtsbewegung erneut einsetzt (Abb. 1)Abb. 1 Der Ton – und das Spiel von vorne beginnt. Und dann spiegeln Sie einmal per gedachten Mausklick ihre visuelle Welle ins Gegenteil und schieben sie über die schon bestehende Welle (Abb. 2)Abb. 2 Gegengleich. Interessant, was dann geschieht: Es treten auf einmal exakte Schnittpunkte zu Tage! Momente, in denen weder eine Aufwärts- noch eine Abwärtsbewegung erkennbar ist. Verbindet man diese Punkte gedanklich miteinander, entsteht eine geheimnisvolle, weil ansonsten unsichtbare Linie: der „tonlose Ton“, der jeder Wellenbewegung als Konstante innewohnt (Abb. 3)Abb. 3 Der tonlose Ton. Diese Wellenbewegung finden wir wieder in der „Blume des Lebens“, die  auch als das „Gewebe des Seins“ bezeichnet wird. Und wenn Sie diese „Blume“ einmal genau betrachten, dann sehen Sie, dass diese Blume aus nichts anderem als Wellenbewegungen besteht, die sich gegenseitig durchdringen! Wellenbewegungen als Symbol für den Ton und sein allgegenwärtiges Wirken. Denn unser ganzes Sein wird vom Ton durchdrungen und seine Spur findet sich in jeglichem Leben! 

Die Obertöne

Den Begriff „Harmonie“ kennen wir auch in erster Linie aus der Musik. Dort gibt es die harmonikalen Gesetze und sie entspringen der Obertonreihe. Jeder natürlich erzeugte, also lebendige Ton ist nämlich als Ganzes nur die Summe aller seiner Bestandteile – der Obertöne. Deswegen heißt es auch in jenem berühmten Heraklit-Fragment zu diesem Thema „Die verborgene Harmonie ist mächtiger als die offensichtliche“, denn wir hören im Außen nur einen einzelnen Ton. Doch im Verborgenen, normalerweise Unhörbaren dehnt sich auf diesem Ton die unendliche Fülle seiner Obertöne ins Grenzenlose und bildet so einen gewaltigen, unsichtbaren „Dom“ aus verborgener Musik! Wenn Sie einmal genau in einen einzelnen Ton hineinhorchen – was Ihnen am einfachsten anhand einer Klangschale gelingt – können Sie seine Obertöne wahrnehmen: Zunächst die „angenehmen“, also harmonischen Intervalle der Oktave, dann die Quinte, wieder eine Oktave, danach Terz und Quart. Erst wenn Sie noch tiefer in das Horchen und heimliche Erlauschen der Obertöne einsteigen, finden sich auch die nach unserem herkömmlichen Musikverständnis als „unharmonisch“ bezeichneten Intervalle von Sekunde, Septime und Tritonus. Und verblüfft stellen wir fest: Auch hier findet eine Art der Wellenbewegung statt. Zuerst bilden die „lichtvollen“ von uns als angenehm empfundenen harmonischen Intervalle einen „Wellenberg“, gefolgt von einem als eher unangenehm empfundenen „Wellental“ der disharmonischen Intervalle. Jedoch: Nur die SUMME ALLER bildet das Ganze eines einzelnen Tons, den wir mit unserem äußeren Ohr als den „offensichtlichen“ Grundton hören. Aber seien Sie nicht traurig, wenn Sie Ihrer Klangschale vielleicht nicht so viele Bestandteile der Obertonreihe „ablauschen“ können, denn das erfordert ein sehr feines Gehör und vor allem ein tiefes musikalisches Empfinden für diese Zusammenhänge. Doch auch wenn unser Gehörapparat nicht empfindlich genug ist, um die Aufspaltung des hörbaren Tons in seine am nächsten liegenden, feinen Bestandteile wahrnehmen zu können – sind sie dennoch in ihm enthalten und schwingen bis in eine für uns unvorstellbare Unendlichkeit fort! 

Harmonie durch Vereinigung der Gegensätze

Leider neigen wir dazu, die angenehmen, „harmonischen“ Begebenheiten des Lebens als wichtiger und erstrebenswerter zu erachten als die „disharmonischen“. Und gerade die sind es aber, die wir durchlaufen müssen um weitere Ausdehnung, sprich Wachstum zu erfahren. Auch die Wellentäler wollen durchschritten werden! Ist das wieder einmal geschafft, landen wir für eine kurze Zeit auf jenem „Nullpunkt“ der Ruhe, an dem ein Moment des Ausgleichs zwischen den Gegensätzen stattfindet – bevor die unendliche Reise in die Wellen des Auf und Ab erneut ihren Anfang nimmt. 

Diese geheimnisvollen „Ruhepunkte“ wollen wir nun einmal unter die Lupe nehmen. Bildlich betrachtet ist dies eine Waage, bei der keine der beiden Schalen sich neigt, sondern vollkommene Ausgeglichenheit zwischen beiden Gewichten besteht. Diesem sehr erstrebenswerten Zustand wohnt eine Form von angenehmer Grundspannung inne, die wir als äußerst harmonisch empfinden: Kein Zuviel oder Zuwenig, sondern von allem ausreichend. Rein physisch gesehen können Sie diesen Punkt erleben, in dem Sie zwei gleich schwere Gewichte einmal jeweils rechts und links in die Hand nehmen. Sie werden feststellen, dass es sich damit viel leichter geht, als wenn Sie nur eine schwere Last in einer Hand tragen. 

Auch im unablässigen Auf und Ab des Lebens sollte sich immer mehr ein stabiles Gleichgewicht in unserer Mitte heraus kristallisieren. Und je öfter wir es wagen, mit Bewusstheit die Reise des Auf und Ab zu durchlaufen, desto öfter werden wir diesen wunderbaren Zustand von Stabilität dazwischen spüren. Heraklit formuliert es so: „Erst durch dauernden Wechsel kommen die Dinge zur Ruhe“. Denn erst wenn wir viele dieser „Ruhepunkte“ in Folge erlebt haben, können wir sie als wiederkehrende Konstante in unserem Leben erkennen und in angenehmer Gespanntheit nach jenem geheimnisvollen Ton lauschen, den der Kulturphilosoph und Schriftsteller Friedrich Schlegel so wunderbar beschreibt:  

„Durch alle Töne tönet

im bunten Erdenraum

ein leiser Ton, gezogen

für den, der heimlich lauschet.“

Der Sufimeister Hazrat Inayat Khan geht darüber sogar noch hinaus: „Je mehr ein Sufi dem Ton des Abstrakten lauscht, desto mehr wird sein Bewusstsein von allen Begrenzungen des Lebens befreit. Die Seele schwebt in Ruhe und Frieden über dem physischen, wie auch über dem geistigen Plan …“ 

Mit den „Begrenzungen des Lebens“ sind hier die ewigen Wellenberge und -täler gemeint, die ein in der Mitte ruhendes Bewusstsein immer weniger als „Unruhestifter“ wahrnimmt und diese irgendwann sogar ganz in sich selbst zu integrieren vermag. Dann liegt laut Heraklit „Harmonie im Widerstreit“. 

Den „tonlosen Ton“ verrät unsere Stimme

Dem indischen Musiker und Atomwissenschaftler Vemu Mukunda verdanken wir die Entdeckung, dass unsere menschliche Stimme ein solches „Zünglein an der Waage“ ist, da die Stimme ständig darauf bedacht ist, mit ihren Frequenzen die bestehenden Überschüsse und Defizite im klingenden Komplex der menschlichen Persönlichkeit (lat. personare = hindurchklingen) auszugleichen. Hinter jenem Frequenzspektrum, das unsere Stimme aufweist, lässt sich der diesem individuellen Spektrum zu Grunde liegende Ton herauslesen: Unser persönlicher Grundton! Unschätzbar ist es, ihn zu kennen, denn ihm wohnt jener „Ruhepol“ inne, den wir im schwingenden Auf und Ab unseres Lebens so sehr ersehnen und in den wir uns einem Instrument gleich „einstimmen“ können, indem wir ihn mittels unserer Stimme tönen und so aktiv ins Wirken bringen. Dann bleibt er nicht mehr länger ein „tonloser Ton“. Auch die Sufis haben dieses Geheimnis entdeckt, denn Hazrat Inayat Khan sagt: „Ein Mensch, der den Grundton seiner Stimme gefunden hat, hat auch den Grundton, den Schlüssel zu seinem Leben gefunden.“  

Dem Universum lauschen

Was die Wirkungsweise des Tons anbelangt, so ist für uns vieles noch vollkommen unvorstellbar! Hätten Sie sich jemals vorstellen können, dass wir einen Ton hören können, dessen Ursache 1,3 Milliarden Lichtjahre von uns entfernt liegt? Genau das ist jetzt aber vor kurzem erst geschehen! Sicherlich erinnern Sie sich an die bahnbrechende Meldung am 11. Februar dieses Jahres, dass erstmalig die Existenz von Gravitationswellen nachgewiesen werden konnte, von denen Albert Einstein lediglich behauptet hatte, dass es sie gibt. Zwei große Massen in Form von zwei Schwarzen Löchern prallten im Universum vor ca. 1,3 Milliarden Jahren aufeinander. Dieser gewaltige Knall erzeugte eine so gigantische Bewegung in Form einer Druckwelle in den Tiefen des Universums, dass wir diese jetzt hier noch wahrnehmen konnten in der Form, daß ein Laserstrahl ein unendlich winziges Zittern registrierte. Diese Bewegung wurde auf einem Bildschirm in Form einer Welle sichtbar und die Forscher konnten sie in den für unser Ohr hörbaren Bereich oktavieren.

Kurz vor Bekanntgabe des Gelingens dieser Sensation sagte der am Albert-Einstein-Institut in Hannover tätige Physiker Harald Lück während eines Interviews in der ARD: „Wir kennen das Universum von Teleskopen, wir haben ein Bild vom Universum, aber die Gravitationswellen würden uns gewissermaßen den Klang des Universums offenbaren. Wir könnten das Universum belauschen, und zwar auch die dunkle Seite: Die Objekte, die kein Licht imitieren, so wie Schwarze Löcher oder Paare von Schwarzen Löchern.“ Für mich ergibt sich hier ebenfalls eine „verborgene Harmonie“ durch die Vereinigung zweier Gegensätze: Die lichtreflektierenden Körper des Universum sind für uns schon lange sichtbar, und die Dunkelheit des Universums wird ab sofort hörbar!

Ich bin gespannt, ob und wann auch die Wissenschaft es nun wagt konkret zu benennen, was sich aus diesem bahnbrechenden Forschungsergebnis u.a. folgern lässt: Daß wir mit Ton Einfluß auf jegliche Materie nehmen können, denn der Ton hat ordnende Wirkung. Daß die Wellen von Licht und Ton niemals vergehen. Daß alles, was wir hier und jetzt sprechen, singen und denken durch entsprechend empfindliche Messgeräte vielleicht noch nach Jahrtausenden irgendwo nachweisbar sein wird. Daß alles im Universum lebt und miteinander in einer unsichtbaren „verborgenen Harmonie“ verbunden ist – Nada Brahma, die Welt ist Klang! 

Einer der Vorgänger Albert Einsteins war der Englischer Mathematiker, Physiker und Astronom Isaak Newton (1643-1727). Er gilt als Begründer der klassischen theoretischen Physik und als Entdecker der Gravitationsgesetze. Am Ende seines Lebens kam er zu dem Schluß: „Die wunderbare Einrichtung und Harmonie des Weltalls kann nur nach dem Plan eines allwissenden und allmächtigen Wesens zustande gekommen sein. Das ist und bleibt meine letzte und höchste Erkenntnis.“ 

(Erschienen in den Zeitschriften „Lebens-t-räume“ und „Fliege Magazin“, Ausgabe März 2016 als LEITARTIKEL zum Schwerpunktthema „Die verborgene Harmonie“)Lebens-t-räume März 2016 klein