In Armenien erzählt man sich folgende kleine Geschichte:
„Es war einmal ein Musiker, der war ein großer Virtuose auf dem Cello. Die gesamte Literatur für dieses Instrument hatte er gespielt und Konzerte auf der ganzen Welt gegeben. Mit zunehmendem Alter jedoch zog er sich immer mehr aufs Land zurück und spielte nur noch wenig auf seinem Cello. Wenn er aber spielte, so erklang das Wenige in immer größerer Vollendung. Bis er eines Tages nur noch einen Ton spielte! Vollkommen glücklich und mit einer Art innerer Verzückung spielte er in vollkommener Perfektion immer wieder nur diesen einen Ton! Seine Frau hatte dafür nur wenig Verständnis, war sie doch mit einem berühmten Cello-Virtuosen verheiratet. Eines Tages kam ein Orchester in die kleine Stadt und gab ein Konzert. Da er sie nicht begleiten wollte, besuchte es die Frau alleine. Nach Hause zurückgekehrt, berichtete sie begeistert ihrem Gatten „Da waren viele Cellisten dabei und sie spielten viele Töne! Immer wieder rauf und runter! Du aber spielst nur noch diesen einen Ton!“ Der Mann jedoch lächelte still in sich hinein und erwiderte „Ja, meine Liebe! Sie suchen noch! Ich hingegen habe gefunden!“
Und Sie? Suchen Sie noch, oder können Sie auch von sich sagen „Ich habe gefunden!“?
Gefunden, ja was denn eigentlich?! Es kann doch unmöglich für einen Cello-Virtuosen erfüllend sein, nur noch einen einzigen Ton zu spielen! Und wie muss dieser eine Ton erst seiner Umgebung auf die Nerven gehen! Warum unterrichtet der Mann denn keine Schüler oder erfreut immer mehr Menschen mit seiner Kunst? Braucht ein Künstler denn jemals keinen Applaus mehr? Das sind so die Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, wenn man diese kleine Geschichte liest und sich das Geschehen bildlich vorstellt. Ob sie jemals tatsächlich passiert ist – wir wissen es nicht!
Wir dürfen uns aber jetzt einmal in die Rolle dieses Mannes versetzen. Schließlich sind wir alle Virtuosen im großen Spiel des des Lebens! Wir beherrschen alle Spielarten auf der Klaviatur unserer Gesellschaft, haben unendlich viel schon gesehen und erlebt! Und dann stellen Sie sich einmal vor, sie hätten für ihre Lebensleistung auch unendlich viel Anerkennung schon gefunden! Ja, leider fehlt den meisten Menschen diese Anerkennung im Außen. Aber stellen Sie sich jetzt einfach einmal vor, Sie hätten davon genug bekommen, wären mit Ehrungen und Preisen für das, was Sie tun, überhäuft worden! Alle Welt wird nicht müde, wenn Sie immer wieder Ihr Programm ablaufen lassen und Sie hätten alles erreicht, was es an Anerkennung dafür gäbe: Den Oscar, den Grammy, den Bambi für Ihr Lebenswerk! Können Sie das Glück fühlen, das Sie bei einer solchen öffentlichen Ehrung empfinden würden? Aber die Zeit bleibt nicht auf diesem Glücksmoment stehen. Stellen Sie sich also vor, Sie hätten ALLES erreicht! Und plötzlich tun Sie für einen so erfolgsverwöhnten Star etwas vollkommen Ungewöhnliches: Sie ziehen sich des Erfolgs überdrüssig auf ihr Landgut zurück, schreiben Ihre Memoiren und verbringen viel Zeit mit sich selbst! Was wird übrig bleiben von Ihrem Leben? Von all Ihren großen Erfolgen? Neue Generationen werden kommen und die Erinnerung an Sie, an Ihr Lebenswerk und die Ehrungen wird langsam verblassen. Wohin geht diese, Ihre Lebensreise? Was ist eigentlich wirklich wichtig? Was bleibt? Und Sie stellen staunend fest: Erst dann, wenn wir die laute Welt einmal zum Schweigen gebracht haben und unser Ego befriedigt ruht, dann schält sich so langsam die Essenz heraus – das Selbst! Unser eigener Ton, eingebunden in eine Welt voller Töne, die alle ihre Funktion innerhalb der Musik des Weltgeschehens haben. Es ist nicht länger notwendig, auf der Klaviatur der Möglichkeiten alles auszuloten und stets in jeder Disziplin zu brillieren. Es ist nicht mehr nötig, die Töne „rauf und runter zu spielen“, nicht mehr nötig, den Ansprüchen der Welt an uns gerecht zu werden, um anerkannt und geliebt zu werden: Wenn ein Mensch SICH SELBST gefunden hat, SICH SELBST alle nur erdenkliche Liebe und Anerkennung zu geben vermag, seine wunderbare Vollkommenheit in seinem Herzen anerkennt – dann hat er die Essenz allen Lebens gefunden! Und diese Essenz wird niemals vergehen, wird niemals auch nur ein Quäntchen äußere Anerkennung brauchen, wird niemals nötig haben die Ansprüche anderer zu erfüllen! Diese Essenz ist Glückseligkeit, ist Vollkommenheit, ist Ekstase, ist Licht von SEINEM Licht, ist pure Liebe: Liebe zu SICH SELBST, Liebe zum eigenen Sein! Und dann erklingt unser Ton in seiner ganzen Wahrhaftigkeit und seiner eigenen, reinen Schönheit. Dann jubelt jeder einzelne Atemzug „So Ham“ – ES ist ICH, ICH bin ES! Dann verlieren die vielen anderen Töne im Außen ihre Faszination, wenn dieser eine, reine, eigene Ton gefunden ist!
Eine schöne Vision, nicht wahr? Und sie ist gar nicht so unerreichbar fern, wie es vielleicht scheinen mag. Hören Sie auf zu suchen und beginnen Sie stattdessen, zu lauschen! Dann werden Sie auch finden! Und zwar die Essenz des einen, reinen Tons: Sich selbst!
Antje Nagula
(Erschienen in den Zeitschriften „Lebens-t-räume“ und „Fliege Magazin“, Ausgabe Januar 2016 zum Schwerpunktthema „Essenz“)