Spirituelle Meister

Zwölf Gebote für Meister und Schüler

von Antje Nagula

Hatten Sie schon einmal die Ehre, Schüler eines Meisters zu sein? Oder haben Sie gar selbst schon den Schritt zum Meister vollzogen und führen Schüler? Dann wissen Sie auch um jenes ganz besondere, geheime Band, welches Meister und Schüler verbindet! Und Sie wissen, dass es nur sehr wenige Beziehungen im Leben eines Menschen gibt, die so eng und so unauslöschlich sind wie eine Beziehung zwischen Meister und Schüler! 

Ich selbst hatte das Glück, im Zuge meiner musikalischen Laufbahn immer wieder Schülerin eines Meisters/einer Meisterin gewesen zu sein. Ja, werden Sie vielleicht einwenden, das waren aber keine spirituellen Meister, die ihre Schüler die Kunst der Lebensführung im Einklang mit dem Göttlichen lehrten, Meister wie Osho, Sai Baba, Yogananda, Sri Aurobindo, Babaji, Meister wie Jesus Christus, Mohammed oder Buddha. 

Dazu möchte ich zunächst einmal bemerken, daß die Genannten physisch z. T. schon lange nicht mehr auf der Erde weilen. Sicherlich gibt es noch einige Wenige unter uns, denen es vergönnt war, direkter Schüler von Osho oder von Sai Baba gewesen zu sein. Auf die Mehrheit von uns trifft dies aber sicher nicht zu. Hingegen sind die Lehren dieser Meister in unzähligen Schriften dokumentiert und diese zu studieren, kann für jeden Suchenden natürlich eine wunderbare Ergänzung auf dem Weg zur eigenen Meisterschaft sein. Das enge persönliche Verhältnis und den besonderen Energiefluss zwischen einem Meister und seinem Schüler kann ein bloßes Studium von Schriften jedoch niemals ersetzen! 

Wie kann man überhaupt einen „Meister“ oder einen „Schüler“ definieren? In gewisser Weise sind wir doch alle Schüler in der großen Kunst der Lebensführung und jeder ist gefordert, das Leben mit seinen großen und kleinen Herausforderungen, seiner täglichen Routine und seinen manchmal schmerzhaften Prüfungen zu meistern!

Es gibt das kosmische Gesetz der Entsprechung, das besagt „Wie im Großen, so im Kleinen“. Will ich also die „große Kunst des Lebens“ erlernen, so ist es naheliegend, zunächst einmal bewußt den Status eines Schülers „im Kleinen“ einzunehmen und die Auseinandersetzung mit irgendeiner „normalen“ Disziplin zu suchen, mit der auseinanderzusetzen mich fasziniert. Dies kann im sportlichen, im darstellerischen oder im künstlerischen Bereich sein – die Wahl meiner Disziplin ist im Grunde zweitrangig, denn die aktive Beschäftigung mit jeglicher Disziplin erfordert letztendlich eine bis in alle Tiefen reichende, intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und ein persönliches Streben nach Vollkommenheit! Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht ist, dass es heutzutage – zumindest im Westen -immer weniger wahre Meister gibt, die einen Schüler zur Meisterschaft zu führen vermögen. Und damit wird es für einen Schüler auch immer schwerer, „seinen“ persönlichen Meister zu finden, was leider auch mit den vorherrschenden Werten und der Struktur unserer Gesellschaft zusammen hängt. Dennoch ist es natürlich möglich, und ich möchte Ihnen hier nun am Beispiel der Geschichte meines ersten Meisters ein paar Punkte verdeutlichen, die allgemeingültig sind, wenn man auf der Suche nach einem Meister – in welcher Disziplin auch immer – ist:

Mein Meister kam zu mir im Alter von 14 Jahren – und er hat mich geprägt für mein ganzes Leben! Damals habe ich schon gesungen und die Kirchen meiner Heimatstadt Bamberg beschallt. Und ich spielte schon seit meinem 10. Lebensjahr Geige. Es hatte sich also bei mir eine dauerhafte Begabung auf musikalischem Gebiet gezeigt und so war ich nach 4 intensiven Jahren des Übens und Strebens auf der Geige mittlerweile kein reiner Anfänger mehr. In dieser Situation sollte ein neuer Lehrer für mich gefunden werden, der mich auf dem nächsten Abschnitt meines Lernens begleiten und mir neue Impulse auf dem Instrument vermitteln sollte. 

1. Der Status eines Schülers erfordert das unbedingte Bewusstsein, selbst ein Lernender zu sein mit der Bereitschaft des Annehmens. Kein Anfänger mehr zu sein, heißt noch lange nicht, dass man schon ein Könner oder gar selbst ein Meister ist!

2. Der Schüler muss förmlich „brennen“ für sein Fach und beseelt sein von der Leidenschaft, sich in seiner Disziplin (hier die Geige) zu vervollkommnen!

Beide Faktoren waren bei mir damals im Übermaß vorhanden und eine meiner Musiklehrerinnen regte schließlich an, es doch zuerst bei Wilfried Zembsch, einem Violinisten im Orchester der Bamberger Symphoniker, zu versuchen. Dieser Mann war damals bekannt dafür, dass er an seine Schüler sehr hohe Anforderungen stellte. Dafür gelang es ihm auch, viele von ihnen überwiegend direkt durch die Aufnahmeprüfungen zum Hochschulstudium zu führen.

3. Status, Titel und Auszeichnungen sind nicht zwingend ein Kriterium für einen Meister! Oft wirken wahre Meister im Verborgenen …

 4. Ein Meister wird gemessen an der Anzahl der Meister, die er hervorgebracht hat! Oder: „Ein rechter Meister zieht keine Schüler, sondern eben wiederum Meister!“ (Robert Schumann)

Es wurde also ein Termin zum Vorspiel vereinbart und so stand ich ihm damals zum ersten Mal mit meiner Geige gegenüber. Mein Spiel war fehlerhaft und zu meinem Leidwesen alles andere als perfekt. Aber trotzig fiedelte ich mich mit hochrotem Kopf bis zum Ende durch. Als dann meine verklungene Musik noch schwer auf mir lastend im schweigenden Raum hing, sah er mich lange und nachdenklich an. Es war ein Blick, der mich erkannte bis in die Tiefe meiner Seele hinein und selten bin ich mir so entblößt, durchschaut und doch auch so verstanden vorgekommen, wie in diesen wenigen Augenblicken! 

5. Meister und Schüler erkennen sich gegenseitig. Es ist ein stummer Pakt, den sie miteinander schließen.

In meinem Blick muss ein großes Staunen gewesen sein. Denn da saß einer, von dem ich genau fühlte, dass er Dimensionen von Musik erfahren hatte, die mir damals noch verschlossen waren. Gleichzeitig haftete ihm eine gelassene Sicherheit an, die mich faszinierte, denn ein einfacher Schüler war ich nie und ich stellte alle meine Lehrer stets hart auf die Probe. Es war nur ein einziger Blick, ein einziges Erkennen des anderen, was unsere Meister-Schüler-Beziehung besiegelte. Dann stand er auf, trat zu mir und begann unmittelbar damit, mich anhand meines Vorspielstückes zu unterrichten, ohne meine Leistung auch nur mit einer Silbe zu kommentieren.

6. Ein Schüler muss bereit sein, sich seinem Meister in vollkommener Hingabe zu unterwerfen und sich ohne wenn und aber mit 100% Vertrauen in dessen Hände begeben! 

Dieser Punkt fällt vielen von uns heute sehr schwer! Meistens behalten wir uns immer noch ein gesundes Maß an Skepsis vor und bis wir bereit sind, das aufzugeben, bedarf es im Vorlauf einer längeren Zusammenarbeit, einem längeren Kennenlernen. Doch genau jener einmalige Moment des Erkennens hat jene Bereitschaft zu bedingungsloser Unterwerfung zur Folge und ist Teil jener besonderen Magie zwischen Meister und Schüler. Möglicherweise kann sich ein Meister-Schüler-Verhältnis auch erst langsam entwickeln – was aber wenn, dann sicher nicht die Regel, sondern eher eine Ausnahme sein dürfte.

7. Ein Meister ist sich der großen Verantwortung seiner Aufgabe bewusst, wenn sich ihm ein Schüler in dieser Weise anvertraut. Er wird diese vollkommene Hingabe niemals für eigennützige Zwecke missbrauchen.

Ich war ihm jedenfalls von Stund‘ an verfallen! Für mich als junges Mädchen kam er gleich nach Gott und ich wollte nichts mehr, als mich seiner als Schülerin würdig zu erweisen. Jeder Stunde fieberte ich entgegen, obwohl er mich nie lobte und auch nie tadelte. Ich hätte alles für ihn getan und still lächelnd wusste er das auch. Aber es erfreute ihn allein mein musikalisches Vorankommen – und so übte ich eben wie eine Verrückte und machte dementsprechend große Fortschritte auf dem Instrument.

8. Natürlich darf ein Meister eine angemessene Entlohnung von seinem Schüler verlangen und der Schüler darf auch das Renommé seines Meisters nutzen. Aber niemals dürfen derart eigennützige Motive den Ausschlag für eine Meister-Schüler-Beziehung geben! 

Mit meiner Mutter, die mich in alleiniger Verantwortung erzog, hatte er einen Preis für meinen Unterricht vereinbart, der an der Untergrenze des gängigen Stundensatzes lag, denn unsere Situation war ihm sehr wohl bewusst. Er sah in meinem Talent einen Rohdiamanten, dem einen richtungsweisenden Schliff zu geben er als seine Aufgabe und Herausforderung betrachtete. Ich habe nicht erlebt, dass er jemals mehr als gleichzeitig zwei, allerhöchstens drei Schüler hatte, und auch diese waren in unterschiedlichen Stadien des Könnens. Normale Lehrer bestreiten ihren Lebensunterhalt vom Unterrichten ihrer Schüler und sie nehmen deshalb auch jeden als ihren Schüler an. Für Anfänger mag diese Lehrform zunächst auch durchaus sinnvoll sein, um eine Disziplin erst einmal in Ruhe kennen zu lernen und erproben zu können. Ein Meister hingegen hat sein eigenes Auskommen und ist nicht davon abhängig, ob er gerade Schüler hat oder nicht. Wenn er dann aber einen Schüler annimmt, dürfen finanzielle oder gesellschaftliche Faktoren niemals auch nur Teil dieser Entscheidung sein.

9. Die Beziehung beschränkt sich ausschließlich auf den persönlichen Unterricht. Dies macht die Zeit, die ein Schüler mit seinem Meister verbringt, überaus kostbar und wertvoll.

Er wusste alles von mir, ohne dass wir länger darüber hätten sprechen müssen. Es war allein schon mein Spiel, das mich verriet. War ich meinem Schwarm gerade in unglücklicher Liebe verfallen, quittierte er dies mit einem wissenden Schmunzeln. Trieben mich die pubertären Auseinandersetzungen zu Hause zur Verzweiflung, war sein Verständnis für mich ein Fels in der Brandung. Dabei blieb er aber immer bei der Sache und verlangte mir musikalisch stets das Äußerste ab. Er war in spieltechnischen Fragen unnachgiebig und streng, was für mein musikalisches Ungestüm ein Segen war. Und er erteilte mir Lektionen fürs Leben, die ich nie vergessen werde: Da ich z. B. mit meinen Leistungen meist selbst unzufrieden war, neigte ich dazu, mein Spiel zu unterbrechen, das Stück von vorne zu beginnen und vorsorglich meine Fehler dabei negativ zu kommentieren. Als das zu Beginn einer Stunde wieder einmal besonders überhand nahm, klappte er unvermittelt meine Noten zu und sagte überaus liebenswürdig: „Nun, ich bewundere, wie Du unseren Unterricht gestaltest. Aber komm‘ doch bitte erst dann wieder, wenn Du bereit bist, dich nur von mir unterbrechen zu lassen!“ Und schickte mich nach nur 10 Minuten Unterricht nach Hause. Gleiches geschah, als ich einmal ein Stück offensichtlich nicht in der von ihm geforderten Weise geübt hatte: „Ich denke, wir verschwenden nur unsere Zeit!“ Und damit war diese Unterrichtsstunde mit einem freundlichen Lächeln beendet: Eine schallende Ohrfeige hätte nicht schmerzhafter und beschämender für mich sein können! 

10. Ein Meister überträgt sein Können auf seinen Schüler. Er führt ihn zur Freiheit und zur eigenen Meisterschaft, aber niemals in eine Abhängigkeit von seiner Person!

Er spielte mir fast nie vor, sondern lehrte mich, mir meine Musik selbst zu erschließen. Doch es kam vor, dass ich an manchen Passagen einfach feststeckte und immer wieder falsch spielte. Dann nahm er meine Geige, zeigte mir genau, wie die Passage zu üben sei und spielte sie auf meinem Instrument. Danach konnte ich die Passage tatsächlich überwinden, so als hätte meine Geige sie erst von ihm lernen müssen. Damals grenzte das für mich an Hexerei! Heute weiß ich, dass auf diese Weise ein sehr subtiler Austausch von Energie stattgefunden hat in der Art, wie das eben nur in einem persönlichen Verhältnis vom Meister zum Schüler möglich ist.

Parallel zu meinen Fortschritten auf der Geige entwickelte sich kometenhaft auch meine Gesangsstimme – was ihm nicht entgehen konnte. Mein Abitur mit Leistungskurs Musik erforderte von mir beide Disziplinen und es muss ihm weit vor mir selbst schon klar gewesen sein, dass ich Gesang und nicht Violine studieren würde. Als ich das für mich und gegen den erbitterten Widerstand meiner Familie entschieden hatte, musste ich es ihm sagen. Und zu meinem Erstaunen war gerade er es, der mich in meinem Vorhaben ermutigte und bestärkte. Sein Verständnis und sein unbedingter Rückhalt gaben mir letztendlich die Kraft, um meine Aufnahmeprüfungen an den staatlichen Hochschulen zu bestehen.

11. Ein Meister freut sich darüber, wenn das Können eines Schülers sein eigenes Können übersteigt. Er wird dann niemals einen Konkurrenten in seinem Schüler sehen, sondern immer den Status als dessen Meister genießen.

Mit meiner letzten Abiturprüfung, einem Vorspiel auf der Geige, kam auch meine letzte Unterrichtsstunde bei ihm. Wir wussten das beide und haben es doch nie ausgesprochen. Es endete, wie es begann – unmittelbar. Ich verließ Bamberg, aber aus den Augen verloren wir uns zeitlebens nie. Ich besuchte ihn immer wieder, wenn ich einmal in der Stadt war und er war an meinem Werdegang stets sehr interessiert. Dabei schmerzte es mich, zu sehen, wie eine schleichende Muskelerkrankung ihn nach und nach in den Rollstuhl zwang. Doch auch diese Krankheit meisterte er bravourös dank seines Könnens, eiserner Disziplin und einer unerschütterlich positiven Lebenseinstellung. Er spielte noch lange im Festspielorchester von Bayreuth, als seine Ärzte das feinmotorisch schon nicht mehr für möglich hielten. 

Ich war seine letzte Schülerin und nach mir hat er nie wieder einen Schüler angenommen. Scherzhaft sprach er von mir stets als einem würdigen Ende seiner Lehrtätigkeit, da, wie er sagte, ihn nach mir wahrlich niemand mehr überraschen konnte. Er war ungeheuer belesen und erachtete es als erstrebenswert, lebenslänglich nicht mit dem Lernen aufzuhören. Sein Haus war bis zuletzt ein kleiner Salon, in dem er Kammerkonzerte und Lesungen veranstaltete und mit großem Vergnügen künstlerisch-intellektuellen Austausch in feinem Rahmen auf höchstem Niveau pflegte. Vor einem dieser Hauskonzerte kam in der Nacht unerwartet und plötzlich der Tod zu ihm als stiller Besucher und befreite eine große Seele aus ihrem längst zum Gefängnis gewordenen Körper.

12. Der Tod kann das Band einer Meister-Schüler-Beziehung nicht zerreißen. Die tiefe Verehrung und die Dankbarkeit, die ein Schüler stets für seinen Meister empfindet, enden nie und überdauern Zeit und Raum! 

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Antje Nagula ist Sängerin und Tontherapeutin nach dem Nada Brahma System von Vemu Mukunda. Sie erhielt eine klassische, musikalische Grundausbildung in den Fächern Klavier und Violine, bevor sie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ihr Studienfach Gesang – Oper Operette Konzert mit Diplom abschloß. Weitere Informationen unter 

www.AbwUnMusic.de, fb.com/abwunmusic

Literaturempfehlung zu diesem Artikel: 

„ZEN in der Kunst des Bogenschießens“ von Eugen Herrigel

(Erschienen in der Zeitschrift „Lebens-t-räume“ und „Fliege Magazin“, Ausgabe April 2016 als Cover-Leitartikel zum Schwerpunktthema „Spirituelle Meister“)